Ein Jahrzehnt lang wurde die strukturelle Gewalt in Wiener Kinderheimen und Pflegefamilien aufgearbeitet. Heute wurde vom „Weißen Ring“ der Abschlussbericht vorgelegt.
Abschlussbericht: Hilfe für Opfer von Gewalt in Einrichtungen der Wiener Jugendwohlfahrt
Der umfangreiche Bericht bietet neben Details zu den Ausgaben, den Prinzipien und dem Ablauf des Projekts auch sehr persönliche Einblicke aus Sicht der Mitglieder des Gremiums. Außerdem enthält er eine ausführliche Analyse der Schreiben Betroffener, die sich im Zuge des Projekts mit Lob und Dank aber auch mit Kritik an den „Weißen Ring“ gewandt hatten. Ein Überblick über die zahlreichen für das Projekt relevanten Studien und deren wesentlichste Ergebnisse sowie eine umfangreiche Literaturliste runden den Text ab.
HINTERGRUND
2010 wurde mit dem Weißen Ring eine Kommission zur Untersuchung der Vorkommnisse in der Jugendwohlfahrt eingerichtet. Der Untersuchungszeitraum beginnt mit dem Ende des 2. Weltkriegs bis zur Jahrtausendwende, mit dem Schwerpunkt auf die 1950er und 60er Jahre, es wurden vor allem persönliche Gespräche mit den Betroffenen geführt, deren Erleben wurde dokumentiert. Der persönliche Aufarbeitungsprozess wurde aktiv durch Psychotherapie unterstützt. Die Betroffenen durften auch Einsicht in ihre Kinderakten der MA11 nehmen. Diese enthielten schockierende, diskriminierende und menschenverachtende Dokumente.
Wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte
Erst die wissenschaftliche Aufarbeitung machte das Ausmaß der strukturellen Gewalt in Einrichtungen der Jugendwohlfahrt sichtbar. Damit dies gelingen konnte, wurden Archive der Stadt Wien und anderer Institution geöffnet. Der Impuls zur Aufarbeitung ging vor allem von den damals betroffenen Kinder und Jugendlichen aus. Im Juni 2012 wurde unter Leitung von Reinhard Sieder und Andrea Smioski eine umfangreiche wissenschaftliche Studie (https://www.wien.gv.at/kontakte/ma11/pdf/endbericht-erziehungsheime.pdf ) veröffentlicht. Darin werden alle Formen der Gewalt wie strukturelle, soziale, materiell-ökonomische, körperliche, psychische, sexualisierte und sexuelle Gewalt wahrgenommen. Im Juni 2013 wurde von der Kommission Wilhelminenberg unter Leitung von Barbara Helige der Abschlussbericht vorgelegt. (http://www.kommission-wilhelminenberg.at/presse/jun2013/Bericht-Wilhelminenberg-web_code.pdf) In diesem wird die physische und psychische Gewalt und der massive sexuelle Mißbrauch an Minderjährigen bestätigt und die Stadt Wien dazu aufgefordert, sich öffentlich für das entstandene Leid zu entschuldigen.
Heim- und Pflegekindern wurde systematisch ihre Würde geraubt. Jedes Gespräch mit Heimopfern belegt das System der strukturellen Gewalt. Auf Betreiben der damaligen Sozialsprecherin Birgit Hebein wurde 2016 im Parlament eine Gedenkveranstaltung für Opfer von Kinder- und Jugendeinrichtungen abgehalten. Diese wurde auch im Fernsehen öffentlich übertragen und war damit breit zugänglich. In Wien wurde zusätzlich im November 2016 eine Gedenktafel im 9. Bezirk an der Stelle der ehemaligen zentralen Kinderübernahmestelle, bekannt als Julius Tandler Heim, enthüllt.
Prävention als Auftrag für die Zukunft
30 Jahre nach Beschluss der Kinderrechtekonvention der Vereinten Nationen ist eines der dunkelsten Kapitel in der neueren Geschichte der Jugendwohlfahrt großteils aufgearbeitet, auch wenn Betroffene dieser unsagbar grausamen strukturellen Gewalt in den Einrichtungen und Pflegefamilien wohl weiterhin mit den Folgen zu kämpfen haben. Zumindest ist das was geschehen ist, umfassend dokumentiert. Damit ist das, was geschehen ist, klar als Unrecht und als schwere Kinderrechtsverletzung ausgewiesen. Die öffentliche Anerkennung der Vergehen kann diese nicht ungeschehen machen. Man kann aber aus der Geschichte lernen. So wurde etwa in der Wiener Kinder- und Jugendanwaltschaft eine Ombudsstelle für Kinder, die nicht bei ihren Familien leben können, eingerichtet. (https://kja.at/site/home/ombudsstelle-fuer-kinder-und-jugendliche-in-betreuten-wohngemeinschaften/ ).